Schwangerschaft und Stillzeit gelten als kritische Lebensabschnitte, weil das hohe Tempo von Zellwachstum und Organentwicklung eine reichliche, fein aufeinander abgestimmte und störungsfreie Bereitstellung aller wichtigen Bau- und Signalstoffe erfordern. Erfreulicherweise geben sich Eltern, Ärzte und Hebammen in diesem Zeitrahmen besondere Mühe, auf einen vorbildlichen Lebensstil hin zu wirken.
Gut gemeint bedeutet jedoch längst nicht immer auch gut geraten. Und selbst auf richtige Empfehlungen folgt längst nicht immer eine korrekte Umsetzung in den Alltag. Vor allem Schwangere mit Vorerkrankungen, Übergewichtige, Vegetarierinnen und Veganerinnen benötigen eine besondere Beratung und Empfehlungen, die vom Üblichen abweichen.
In der westlichen Welt sind längst nicht mehr die Mangelernährung, sondern Über- und Fehlernährung die Hauptursachen für Mikronährstoffmängel in Schwangerschaft und Stillzeit. Die grundlegenden Probleme dabei: Zuviel Zucker, zu viel Fruktose, zu viele gesättigte Fette, zu viele vitalstoffarme Nahrungsmittel mit hoher Energiedichte, zu wenig Gemüse, Obst und hochwertiges Eiweiß, zu wenig Ballaststoffe, zu wenig sättigende Nahrungsmittel mit geringem Kaloriengehalt und dennoch hoher Vitalstoffdichte. Die resultierenden Mangelzustände an Mikronährstoffen und Vitaminen kündigen sich selten durch spezifische Symptome oder Beschwerden an, sondern entwickeln sich schleichend und mit zunächst uncharakteristischen Folgen. Während der Energiemehrbedarf gegen Ende einer Schwangerschaft höchstens 10 % erreicht und fast immer überschätzt wird, steigt der Mehrbedarf an Vitalstoffen ganz erheblich, oft ohne die nötige Kompensation.
Nur halbwegs klare Verhältnisse bei Eisen, Folsäure und Iodid
Eine zusätzliche Versorgung mit elementarem Eisen (40-60 mg/Tag), Folsäure (400-600 mcg/Tag) und Iodid (100-150 mcg/Tag) zu erreichen, gilt heute als wünschenswerter Standard für alle Schwangeren. Einigkeit besteht dahingehend, dass dieses Ziel üblicherweise nicht mit der Ernährung, sondern nur durch eine gezielte Supplementierung, meist in Form von Kombinationspräparaten, zuverlässig zu erreichen ist. Von dieser Pauschalempfehlung abweichend, dürften jedoch im individuellen Einzelfall deutliche höhere Dosierungen ratsam sein (Beispiel: Schwangere mit manifestem Eisenmangel und Anämie, Schwangere mit erhöhtem Methylierungsbedarf aufgrund von Stress oder Depression, Schwangere mit Abneigung gegenüber Hülsenfrüchten, Spinat und Vollkornprodukten, Schwangere mit Jodmangelstruma). Um Neuralrohrdefekten (Spina bifida), aber auch angeborenen Anomalien wie Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Herzfehlern vorzubeugen, wird eine Folsäurezufuhr mit „mindestens 400 mcg/Tag mindestens 6-8 Wochen präkonzeptionell bzw. mit mindestens 800 mcg/Tag mindestens 4 Wochen präkonzeptionell“ angeraten. Wäre doch gelacht, wenn nicht jede Frau Wochen bis Monate im Vorfeld ihren Konzeptionstermin fixieren- und jeweils rechtzeitig mit der jeweils korrekten Folsäureeinnahme beginnen könnte! Also bloß nicht einfach und einprägsam, wenn es doch auch kompliziert und umständlich geht? Was spräche gegen eine allgemein als unbedenklich und wirksam geltende Dosierung von 1000 Mikrogramm (1 mg) Folat für alle Frauen, die schwanger werden wollen oder bereits sind? Und einen satten Aufschlag (5 mg/Tag) oder gar ein biologisch aktives Folat (z.B. L-Methyl-Folat) für Frauen mit hohem Risiko für Neuralrohrdefekte?
Schwangere Vegetarierin/Veganerin
Bei vegetarischer und insbesondere bei veganer Ernährungsweise während Schwangerschaft und Stillzeit resultiert nahezu immer ein profunder Mangel an Vitamin B12, der frühzeitig und konsequent (mindestens 5 Mikrogramm/Tag) ausgeglichen werden sollte, um hämatologische und neurologische Folgeschäden der Mutter und ihres Nachwuchses zu vermeiden. Berücksichtigt man die enorme Bedeutung einer guten Vitamin B12-Versorgung, die fehlende Toxizität und die unsichere Resorption selbst aus Supplementen, spricht nichts gegen eine großzügige Zufuhr von 50-100 Mikrogramm Vitamin B12/Tag. Zur Überprüfung einer ausreichenden Vitamin B12-Versorgung während Schwangerschaft und Stillzeit eignen sich die Vitamin B12-Biomarker Methylmalonsäure (MMA), Holo-Transcobalamin (holoTC) oder Homocystein (Hcy), laborabhängig auch die direkte Messung von Vitamin B12 im Serum.
Darüber hinaus empfiehlt sich bei vegetarischer/veganer Ernährungsweise, die häufig resultierenden Mangelzustände an Eisen, Kalzium, Vitamin D3 und Omega-3-Fettsäuren (insb. Docosahexaensäure, DHA) zu kompensieren und auf eine reichliche Zufuhr von hochwertigen Proteinen zu achten. Folsäure und Iodid sollten vegetarische/vegane Schwangere und Stillende natürlich ebenfalls substituieren.
Cholin, das unterschätzte Vitamin
Als wesentlicher Bestandteil von Zellmembranen, Neurotransmittern (Acetylcholin) und für Nerven-, Gehirn- und Organentwicklung wichtiger Methylierungsreaktionen spielt Cholin (Vitamin B4) gerade in der Embryonal- und frühkindlichen Entwicklung eine überragende Rolle. Nicht nur zur Vermeidung von Neuralrohrdefekten, auch für eine Optimierung kognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit, Gedächtnis) ist Cholin essentiell. Eine gute Cholinversorgung des Embryos (via Placenta) und des Säuglings (via Muttermilch) wird von der Natur sichergestellt, wenn die Mutter den Wirkstoff reichlich verfügbar machen kann. Voraussetzung hierfür ist freilich eine ausreichende Zufuhr tierischer Produkte wie Eigelb, Rindfleisch und Innereien, die als Hauptlieferanten von Cholin gelten, jedoch in Zeiten vegetarischer bzw. veganer Ernährungsstrends vom Speisezettel „gesundheitsbewusster“ Schwangerer immer mehr verdrängt werden. Mehr Aufmerksamkeit für das vor allem in Europa wenig beachtete Vitamin B4 forderten deshalb Experten beim diesjährigen Kongress der Europäischen Gesellschaft für Gynäkologie (ESG 2019, Wien): Da die körpereigene Cholin-Synthese in Zeiten eines besonders hohen Bedarfs wie in der Schwangerschaft nicht ausreiche und Cholin fundamental wichtige Bedeutung für das Zellwachstum und die Organreifung habe, wird allen Schwangeren und Stillenden zu einer Cholin-reichen Ernährung bzw. zur Supplementierung von 350-500 mg/Tag geraten. In vielen handelsüblichen Nahrungsergänzungspräparaten für Schwangere werde diese Empfehlung jedoch noch nicht berücksichtigt.