Weltweit gibt es nur wenige Regionen, wo besondere Lebensbedingungen ungewöhnlich vielen Menschen ein besonders hohes Alter bei guter Gesundheit ermöglichen. Diese heute von der Wissenschaft als „Blue Zones“ bezeichneten Gegenden liegen im japanischen Okinawa, in Italien auf Sardinien und Kalabrien, auf der griechischen Insel Ikaria, in Loma Linda/Kalifornien, aber auch in eng umschriebenen Gebirgsregionen im Kaukasus, in Ecuador und Pakistan. Kein Wunder, dass sich Fachleute aller Art brennend für diese besonderen Menschen interessieren, denen ohne großes Zutun und Nachdenken gelungen ist, was sich fast jeder Mensch heute erträumt: ein langes gesundes Leben ohne vorzeitigen Verschleiß und schwerwiegende Krankheiten, mit positiver Grundhaltung, Lebensfreude, ja Lebenslust. Welche Geheimnisse über erfolgreiches, gesundes Altern konnten die Wissenschaftler bisher lüften, und was können wir von Menschen lernen, die ein langes Leben in gut erhaltener Gesundheit erfolgreich gemeistert haben.
In der Hoffnung, wertvolle und nachahmenswerte Hinweise über die „healthy longevity“, das gesunde lange Leben, zu erhalten, werden Leben und Kultur der Hundertjährigen („Centenarien“) heute immer genauer durchleuchtet. Ganze Horden von Altersforschern haben sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, die entlegenen Wohnorte der besonders Langlebigen zu besuchen, mit ihnen Interviews zu führen und ihre Lebensumstände möglichst genau kennenzulernen. Doch damit nicht genug: Mittlerweile wird auch mit modernsten wissenschaftlichen Methoden an den Uralten gearbeitet, ihre Blutproben analysiert, ihre Organfunktionen getestet, ihre genetischen Besonderheiten entschlüsselt, ja selbst die Zusammensetzung ihrer Darmflora unter die Lupe genommen. Dass dabei durchaus die Zeit drängt, ist kein Geheimnis mehr: Die Cluster der besonders Langlebigen sterben allmählich aus, immer seltener erreichen ihre Nachfahren gesund ein ähnlich hohes Alter. Weil der moderne Lebensstil längst bis in ihre Regionen vorgedrungen ist und die dortigen Lebensumstände unumkehrbar verändert hat, wirken die vitalen Hochbetagten wie die letzten lebenden Fossile aus einer vergangenen Epoche.
Ernährung bodenständig, einfach, karg
Ein Schlüssel zum gesunden Altern dürfte in der besonderen Ernährungsweise liegen, die bei Hundertjährigen aus allen Regionen der Welt trotz großer kultureller Unterschiede bemerkenswerte Ähnlichkeiten zeigt. Wenige einfache, saisonal verfügbare und nur lokal angebaute Nahrungsmittel prägen die Alltagsernährung: bunte Gemüse, Salate und Obst aus dem eigenen Garten, Hülsenfrüchte, (Süß)kartoffeln, Getreidekorn, Eier, Nüsse, Zwiebeln, Algen, Kräuter und Gewürze. Tierisches Eiweiß in Form von Fleisch und Fisch steht bemerkenswert selten auf dem Speisezettel (Ausnahme: Fisch und Meeresfrüchte auf Okinawa). Kuhmilch und daraus hergestellte Produkte fehlen überall fast völlig. Wenn Käse hergestellt wird oder wenn Gäste oder Feste ein besonderes Mahl erfordern, sind Schaf und Ziege die Fleisch- und Milchlieferanten. Alles wird frisch zubereitet oder selbst haltbar gemacht, nichts Vorgefertigtes oder industriell Hergestelltes kommt auf den Tisch. Getrunken wird überwiegend Quellwasser und Tee, etwas schwarzer Kaffee, in Gesellschaft auch Bier, Wein und Schnaps, jedoch in moderaten Mengen. Überhaupt lautet das Leitmotiv durchgängig: Maß halten, keine Völlerei, keine Exzesse! Das Ernährungsmuster beschreiben Ökotrophologen als eher karg, genügsam, aber nahrhaft und inhaltsreich: Zwei bis drei Mahlzeiten pro Tag, das Mittagessen tendenziell reichlicher, am Abend kleine Portionen, die Gesamtkalorienmenge dem Energieverbrauch immer angepaßt, aus westlicher Sicht eher kaloriensparsam.
Lebenslange körperliche Arbeit ersetzt das Fitnessstudio
Ein Fitnessstudio hat keiner der Hundertjährigen jemals von innen gesehen. Statt sich ein- oder zweimal pro Woche eine Stunde zu verausgaben und ansonsten im Büro oder mit dem Handy auf der Couch zu sitzen, hatte ihr Leben tagtäglich vom Aufstehen bis zum Zubettgehen körperliche Aktivität und meist intensive Muskelarbeit fest einprogrammiert. Männer waren tage- und wochenlang mit dem Vieh unterwegs, als Hirten oder Bauern beschäftigt oder als Fischer auf ihren Booten unterwegs. Frauen trugen hohe Verantwortung und sorgten für Haushalt, Küche, Kinder und Finanzen. Insbesondere in den steilen Gebirgsregionen oder auf dem rauhen Meer absolvierten alle Hundertjährigen tagtäglich über viele Stunden ein intensives Ausdauer- und Muskeltraining, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Kein Wunder, daß die Altersforscher ihren Studienobjekten ganz überwiegend erfreuliche biometrische Daten attestieren konnten: „Normalgewicht, wenig Bauchfett, gut erhaltene und trainierte Muskulatur, stabile Knochen und agile Gelenke“.
Exzellenter Gesundheitszustand, kaum Verschleiß
Geradezu verblüfft und ungläubig staunend äußerten sich gleich mehrere Ärzteteams, nachdem sie den Gesundheitszustand vieler Hundertjähriger genau unter die Lupe genommen hatten. Die in westlichen Ländern dominierenden Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs und Fettleber waren hier fast überhaupt nicht anzutreffen. Aber auch bei chronischen Infektionen, Gelenkverschleiß (Arthrose), Diabetes, Gefäßerkrankungen, rheumatischen Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, M. Parkinson und M. Alzheimer erwiesen sich die meisten Hundertjährigen als erstaunlich resistent. Trotz lebenslang intensiver Sonneneinstrahlung war die Häufigkeit bösartiger Hauteveränderungen gering. Zahnärzte wunderten sich über regelmäßig gut erhaltene Gebisse, robuste Kieferknochen und gesundes Zahnfleisch. Regelmäßige Arztbesuche benötigte kaum einer der Hundertjährigen. Hauptgründe für seltene medizinische Behandlungen waren Arbeitsunfälle, akute Infektionen nach Stich- und Bissverletzungen, sowie thermische Einwirkungen wie Erfrierungen, Verbrennungen, und Verbrühungen.
Traditionspflege, Nachbarschaftshilfe, Spiritualität
Mit einem unterschiedlichen Essverhalten und einem höheren Fitnessgrad hatten die Ärzte und Forscher bei den Hundertjährigen gerechnet, durchaus auch mit weniger Verschleißerkrankungen. Doch die größten Abweichungen vom westlichen Lebensmuster fanden sich bei anderen Kategorien, nämlich im familiären, kulturellen und spirituellen Umfeld: familiärer Zusammenhalt, familiäres Zusammenleben mehrerer Generationen, Wertschätzung der Alten und Superalten, Traditionspflege, Nachbarschaftshilfe, dörflicher Zusammenhalt, gemeinsames Feiern und Trauern, Nächstenliebe, Religiosität und Spiritualität. Lebenslang eingebettet zu sein in eine schützende Familie und Dorfgemeinschaft, gemeinsames Durchstehen von Schicksalsschlägen und Problemen, gemeinsames Lachen, Singen, Tanzen und Feiern erwiesen sich als die entscheidenden Gründe für die große Zufriedenheit, die enorme Lebensgelassenheit, die niedrigen Streß-, Angst- und Depressions-Scores und das hohe subjektive Glücks-Rating, das die Mehrzahl der Hundertjährigen aus den Blue-Zones weitgehend von dem unterscheidet, was das Leben alter und sehr alter Menschen in Ländern der modernen westlichen „Zivilisation“ heute prägt.