Schon seit einigen Jahren rückt ein Mysterium immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses von Molekularbiologen, Gerontologen und Forschern, die sich für die Steuerung und Kontrolle von Alterungsprozesse interessieren: das Rätsel der seneszenten Zellen.
Dabei handelt es sich nicht bloß um gealterte Zellen, die im ihren eigentlichen Funktionen im Körper nicht mehr nachkommen. Ganz im Gegenteil: Seneszente Zellen (von lateinisch senescere = „alt werden“) weisen zwar in ihrem Zellinnenleben einige Veränderungen und Defekte auf, doch sie sind äußerst vital, oft sogar metabolisch besonders aktiv und für ihre Nachbarzellen und den gesamten Körper eine ernste Gefahr. Denn sie können nicht nur ihre unmittelbare Umgebung mit Entzündungsfaktoren „vergiften“, sondern selbst in entfernten Körperregionen über Botenstoffe beschleunigte Alterungserscheinungen und Verschleißprozesse in Gang setzen. Kein Wunder also, dass sich Wissenschaftler weltweit um ein besseres Verständnis dieser krank machenden Vorgänge bemühen und eifrig an kleinen Molekülen vom Typ der „Senolytika“ forschen, um seneszente Zellen gezielt zu neutralisieren oder gleich ganz aus dem Körper zu eliminieren.
Seneszente Zellen produzieren einen toxischen Cocktail
Das Wissen über seneszente Zellen ist zwar noch recht rudimentär, wächst jedoch von Woche zu Woche. Seneszente Zellen sind nicht mehr in der Lage, ihre eigentlichen Funktionen auszuüben. In das Stadium der Seneszenz treten sie im Sinne einer Stressreaktion ein, die einen irreversiblen Wachstumsstillstand herbeiführt und im Zellinneren unverwechselbare Veränderungen der kernnahen Erbsubstanz (DNA) sowie Funktionsstörungen der Zellkraftwerke (Mitochondrien) in Gang setzt. Weil sie sehr überlebensfähig sind, nicht dem programmierten Zelltod (Apoptose) anheimfallen und metabolisch aktiv bleiben, sind seneszente Zellen in der Lage, mit einem freigesetzten Cocktail an Entzündungsbotenstoffen (Zytokine, Chemokine, Matrixbestandteile) um sich herum ein toxisches Milieu zu schaffen. Berücksichtigt man, dass bis zu 15 % aller Zellen im höheren und hohen Alter seneszent werden, so wird erkennbar, welches enorme Schädigungspotential von dieser Zellpopulation nicht nur für Nachbarzellen, sondern für die Beschleunigung und Ausweitung von Verschleißprozessen im gesamten Organismus ausgehen kann.
Zelluläre Seneszenz: ein Universalprinzip hinter vielen Alterserkrankungen?
Das Spektrum typischer, altersabhängiger Erkrankungen und Verschleißprozesse ist riesig. Es reicht von Herz- und Kreislauferkrankungen und neurologischen Erkrankungen (Schlaganfall, Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson) über Leber-, Darm- und Nierenerkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (Diabetes), Augenerkrankungen (grüner und grauer Star, Makulaerkrankungen) und Knochen- und Gelenkerkrankungen (Arthrose, Osteoporose) bis hin zu Krebs, Muskelschwund (Sarkopenie), Immunschwäche (Immun-Seneszenz) und allgemeiner Gebrechlichkeit. Diese im Alter so häufige Multimorbidität prägt heute das medizinische Bild unzähliger Alten- und Pflegeheime, Arztpraxen und Kliniken. Bislang versucht die Medizin, für jede dieser komplexen Altersplagen eigenständige Therapieverfahren zu entwickeln, bislang mit hohem Aufwand, enormen Kosten und mäßigem Erfolg. Umso faszinierender ist daher die Hoffnung, die entscheidenden Seneszenz-Grundprinzipien verstehen zu lernen, die all diesen Erkrankungen zugrunde liegen. Durch Ausschaltung seneszenter Zellen ließen sich dann die überall im Körper nach ähnlichem Muster ablaufenden Alterungsprozesse parallel kontrollieren, anstatt für jede Erkrankung unterschiedliche Therapieansätze entwickeln zu müssen. „Viele Fliegen mit einer Klappe schlagen“ könnte dann das Zukunftsmotto einer erfolgreichen intelligenten Alterungs- und Verschleißvorbeugung lauten.
Bei Osteoporose funktionieren Senolytika schon in Zell- und Tiermodellen
Wenn Knochenmasse und Knochenstabilität im Alter immer mehr abnehmen und das Risiko für Knochenbrüche (v.a. Arme, Beine, Hüften, Wirbelkörper) emporschnellt, spricht man von Osteoporose. Stumm ablaufende Entzündungsvorgänge (Zytokine), Hormondefizite (Vitamin D3, Östrogene, Testosteron), Medikamenten-Nebenwirkungen (Cortisonpräparate) und körperliche Inaktivität tragen allesamt dazu bei. Im Endergebnis wird mehr Knochensubstanz abgebaut als neu aufgebaut, sodass der vorhandene Knochen immer mehr ausdünnt, an Stabilität verliert und schließlich bricht.
Neue Forschungsergebnisse aus der renommierten Mayo Clinic (Rochester, Minnesota, USA) zeigen nun, dass es sich bei 15 % der Zellen im gealterten Knochengewebe um seneszente Zellen handelt, die im Knochen nichts Konstruktives mehr leisten, aber Regenerations- und Erneuerungsprozesse entscheidend stören. Wurden diese seneszenten Zellen im Knochen alter Mäuse mittels genetischer (Einschleusung eines Selbstmord-Gens) oder pharmazeutischer (Senolytika) Manipulationen ausgeschaltet, hatte dies Erstaunliches zur Folge: Die Knochenmasse dieser alten Mäuse nahm rasch wieder zu, der Knochenabbau ging zurück, die Knochenneubildung kam wieder in Schwung, sodass sich auch Mikroarchitektur und Stabilität ihrer Knochen verbesserten. Nichts dergleichen passierte hingegen in der Kontrollgruppe, die mit Placebo behandelt worden war. Die Forscher konnten damit überzeugend nachweisen, dass seneszente Zellen tatsächlich für die beobachtete Knochenalterung mit verantwortlich sind und dass durch deren Ausschaltung die bestehende Regenerationsblockade aufgehoben werden kann. Und das nicht nur im Knochen, sondern – wie andere Studien erkennen lassen – auch bei anderen altersabhängigen Erkrankungen wie Gefäßleiden, Diabetes und allgemeiner Gebrechlichkeit.
Naturstoffe könnten wie Senolytika wirken
Beschädigte Zellbestandteile werden normalerweise in den Lysosomen („Kläranlagen“) der Zellen abgebaut (Autophagie). Störungen dieser für die Zellhygiene wichtigen Selbstverdauungsmechanismen („zelluläre Müllabfuhr“) haben typischerweise zur Folge, dass die Zellerneuerung blockiert, Zellalterung beschleunigt und Seneszenz in Gang gesetzt wird. Medikamente wie Metformin und Hormone wie Vitamin D3, Melatonin und Equol können an wichtigen Schaltstellen gegensteuern und gelten deshalb als vielversprechende Kandidaten für Senolytika.
Aber auch eine ganze Reihe an Naturstoffen hat es schon auf die Liste aussichtsreicher Senolytika geschafft: neben Quercetin (z.B. in Zwiebeln), Naringin (z.B. in Grapefruits), Tocotrienolen (Vitamin E) und Pfeffer-Bestandteilen werden vor allem Curcuma (Gelbwurz), Resveratrol (Polyphenol, z.B. in Trauben, Beeren, Rotwein) Catechine (Flavonoide, z.B. Fisetin, Epigallocatechingallat in grünem Tee) und Flavone (Apigenin, z.B. in Petersilie, Kirschen, Oliven, Brokkoli) hoch gehandelt. Eine frische, naturnahe Ernährung mit viel buntem Biogemüse, Obst, Beeren und einem Glas Rotwein dürfte sich also auch unter senolytischen Gesichtspunkten für ein gesundes Alter auszahlen. Und nicht zu vergessen die zweite Säule für Vitalität im Alter: Seniorensport und Alltagsaktivität. Forscher aus Asien haben jüngst unter den gesundheitsfördernden Eigenschaften von Bewegung eindeutige senolytische Effekte ausgemacht. Ob derart spannende Erkenntnisse doch so manchen Sesselhocker und Junkfood-Liebhaber zu einer Lebensstiländerung motivieren können?