An jeder Straßenkreuzung zwei Schnellrestaurants, an jeder Ecke eine Döner-Bude und ein Supermarkt. Und wem Einkaufen und Essengehen dennoch zu mühsam wird, ein Food-Lieferservice ist heute nur noch einen Anruf oder Handy-Klick entfernt. Bei soviel rund um die Uhr verfügbarer Nahrung war eine Ernährungsproblem das Letzte, woran amerikanische Top-Ärzte dachten, als sie sich mit einem medizinischen Mysterium konfrontiert sahen: Ein 62-jähriger Mann mit enormer Körperfülle, aber rapide schwindenden körperlichen und geistigen Reserven. Kaum noch gehfähig, die Haut mit Einblutungen übersät, depressiv und apathisch, so präsentierte sich der Wochen zuvor noch recht muntere Tom den Ärzten in der Notaufnahme. Und die mussten wahre Detektivarbeit leisten, um den Hintergründen des Rätsels auf die Spur zu kommen.
Da ihr beleibter Patient wenig auskunftsfähig war und keine Angehörigen anwesend waren, mussten sich die behandelnden Ärzte das nötige Hintergrundwissen über Nachbarn und alte Krankenakten besorgen. Nach langem erfolglosem Kampf gegen sein massives Übergewicht hatte sich Tom Jahre zuvor einer gewichtsreduzierenden Operation an Magen und Därmen unterzogen und immerhin 56 kg auf 156 kg abgenommen, in der Folgezeit aber wieder auf 188 kg zugelegt. Darüber frustriert, öffnete er sich wieder vermehrt seinem früheren Hang zum Alkohol, allerdings nicht ohne seine Nahrungsaufnahme strikt zu begrenzen, der ersehnten Gewichtskontrolle zuliebe. So brachte er es in 9 Wochen zwar auf stolze 17 kg Gewichtsabnahme, doch mit seinen körperlichen und geistigen Kräften ging es rapide bergab
Ärzte in der Notaufnahme konstatieren desolaten Zustand
Als Nachbarn sein Elend bemerkten und die Einlieferung in die Klinik veranlassten, war er völlig kraftlos, geschwächt, kaum noch in der Lage, aufrecht zu stehen und zu gehen. Seine Haut und Schleimhäute mit kleineren Einblutungen übersät, zwei Zähne bereits ausgefallen, seine Stimmungslage und Denkvermögen am Boden. Der untersuchende Neurologe konstatierte neben ausgeprägter Antriebslosigkeit und Schwäche auch massive Missempfindungen und Taubheitsgefühle in beiden Beinen. Alles zunächst sehr verwirrend, sodass die vorläufige Arbeitsdiagnose lautete: „noch unklare, aber ernste Grunderkrankung“.
Selbst renommierte Spezialisten tappen lange im Dunkeln
In den folgenden Tagen machten sich viele Spezialisten ans Werk, mehr Licht in die unklaren Symptome und vor allem den so abrupt verschlechterten Gesundheitszustand von Tom zu bringen. Blutergebnisse zeigten eine erhebliche Blutarmut, zu wenig weiße Blutkörperchen und Blutplättchen. Ein Hautarzt stellte Hauteinblutungen, Wundheilungsstörungen und ein Fehlen fast aller Körperhaare an Armen und Beinen fest. Ein Rheumatologe bestätigte Gelenk- und Muskelschmerzen sowie eine ausgeprägte Muskelschwäche. Dem hinzugerufenen Zahnarzt fielen wacklige Zähne und ein ungewöhnlich schwammiges Zahnfleisch auf. Ein Psychiater schließlich diagnostizierte ein fortgeschrittenes depressiv-apathisches Syndrom mit erhöhter Reizbarkeit. Immer klarer wurde den Ärzten nun, daß sich hinter Toms vielfältigen Auffälligkeiten in allen möglichen Organen und Körpersystemen ein schwerer Mangelzustand an vital erforderlichen Stoffen verbergen musste. Nur welche? Seine Medikamente und auch einige Vitamine wegen der Gewichtsoperation habe Tom laut Auskunft der Nachbarn bis zuletzt immer folgsam eingenommen.
Laborbefunde liefern den Beweis: Verhungert im Schlaraffenland!
Wie ein Blitz schlug dann die Notfallmeldung aus dem Labor ein: nicht nachweisbarer Vitamin C-Spiegel, nicht nachweisbarer Vitamin D-Spiegel, massiver Folsäuremangel, sehr niedrige Spiegel an Vitamin B1 und B6. Und damit nicht genug: auch die Versorgung mit Selen, Zink, Vitamin E und Omega-3-Fettsäuren war mehr als mangelhaft. Lediglich bei Vitamin B12 und Kupfer hatte die Vitaminverordnung dafür gesorgt, halbwegs akzeptable Blutspiegel aufrecht zu erhalten. Nun kam schlagartig Licht in das Diagnosepuzzle um Tom: Seine Grundversorgung mit mehreren entscheidenden Vitalstoffen hatte bereits durch die Voroperation an Magen und Darm erheblich gelitten und war über Jahre mehr schlecht als recht kompensiert worden. Bedingt durch die selbstverordnete Diät und den wieder aufgeflammten Alkoholkonsum hatte sich Toms Ernährungssituation in wenigen Wochen kritisch verschlechtert, sodaß sich sämtliche körpereigenen Reserven erschöpften und grundlegende Funktionen von Körper und Gehirn ausfielen. Toms Körper war also an absolutem Mikronährstoffmangel buchstäblich verhungert, trotz riesiger Kalorien- und Fettreserven und pausenlos verfügbarer Nahrung mitten im Wohlstands- und Schlaraffenland Amerika.
Simple Lösung für ein komplexes Problem
Nachdem die Diagnose eines schwerwiegenden, komplexen Mikronährstoffmangels (Skorbut, Osteomalazie, schwere Folsäure- und B-Hypovitaminose) gestellt war, verordneten die Ärzte Tom intensive Ergänzungsmaßnahmen mittels Infusionen, später mittels höher dosierter Kapseln. Die spannende Frage war nun: Würden Toms verwirrende Symptome und Beschwerden hierauf ansprechen und die lange würde eine spürbare Besserung auf sich warten lassen? Doch die Antwort kam postwendend und eindrucksvoll: schon nach einer Woche erhob sich Tom ohne Hilfe von Bett und Stuhl, lief selbständig über die Station und begann, mit Ärzten und Pflegepersonal in einen munteren Dialog zu treten. Blutbild, Hautbefunde, Stimmungslage und Kraft verbesserten sich in den nächsten Wochen kontinuierlich, unterstützt von einer intensiven Ernährungsschulung und Mikronährstoff-Beratung. Ein viertel Jahr später traute der Ambulanzarzt seinen Augen kaum: Tom war bis auf leichte Gefühlsstörungen in den Füßen rundum wieder hergestellt, seine Haarpracht am Körper wieder nachgewachsen, und sein Ernährungs- und Alkoholproblem im Griff.
Die Botschaft aus diesem eindrucksvollen Fallbericht: Selbst schwere Vitamin- und Mikronährstoffmängel sind in der modernen Überflußwelt keineswegs ausgestorben. Gerade in Zeiten von Fast food, schwindender Lebensmittelqualität und zunehmender Fehlernährung sollten Ärzte nicht davon ausgehen, daß sich ihre Patienten gesund und vitalstoffreich ernähren.