Wäre vor 10 Jahren jemand auf die Idee gekommen, auf einem Fachkongress oder in einer seriösen Fachzeitschrift einen Zusammenhang zwischen Darmbakterien und der Schilddrüsengesundheit zu postulieren, wäre er als Narr entweder verlacht oder kurzerhand aus der wissenschaftlichen Arena hinauskomplimentiert worden. Doch in den letzten Jahren hat sich das Bild gewandelt.
Kaum ein Experte kann es sich heute noch leisten, die Verbindungen zwischen Darm, Immunsystem und Schilddrüse „nicht schon immer“ vermutet zu haben. Wohin man auch blickt, ob Hashimoto-Thyreoiditis, rheumatoide Arthritis oder Lupus erythematodes, überall werden die bislang weitgehend unverstandenen Ursachen von Autoimmunerkrankungen nun in den Tiefen des Darmes und in den Störungen des dort lokalisierten, fehlgeleiteten Immunsystem vermutet. Und dabei dürfte es sich keineswegs um eine wissenschaftliche Modeerscheinung, sondern wohl eher um eine Erkenntnis mit erheblicher Spätzündung handeln. Manche grundlegenden Entdeckungen verharren eben lange im Dunkeln und dringen erst dann ans Tageslicht, wenn der Zeitgeist dafür reif geworden ist.
Billionen von Bakterien agieren als Trainer des Immunsystem
Menschen leben in Symbiose mit Billionen mehr oder weniger nützlicher Bakterien in ihrem Dünndarm und vor allem im Dickdarm. Als die beiden dominierenden Gattungen gelten dabei sogenannte Firmicuten und Bacteroides. Die bakterielle Besiedelung beginnt bereits früh in der Gebärmutter, erfährt Verstärkung durch einen ordentlichen bakteriellen Nachschlag auf dem Geburtsweg durch die Scheide (Kaiserschnittgeborene verpassen diese kostenlose Mitgift) und schließlich ergänzt durch das bakterielle „Zubrot“ im Rahmen des Stillens. So für das Leben bestens gerüstet, steht einer weiteren Entfaltung des bakteriellen Mikrobioms im Darm, auf den Schleimhäuten und auf der Haut vorerst wenig entgegen. Wären da nicht der westliche Lebensstil und die moderne Medizin, denen es bald schon obliegt, durch unnatürliche Ernährungsmethoden (Ballaststoffarm, zuckerreich, industrielles Junk- und Designer-Food), Antibiotika, Medikamente, Umwelttoxine und dadurch ausgelöste Erkrankungen die schützende und gesundheitserhaltende Bakterienflora im Körper systematisch zu zerstören. Dabei gerät aber nicht nur das von günstigen Darmbakterien trainierte Immunsystems aus dem Tritt.
Weil nützliche Darmbakterien auch eine Vielzahl an regulierenden und schützenden Vitaminen (Vitamin K, Folsäure, Vitamine B2, B3, B5, B6, B7, B12) und Fettsäuren (kurzkettige Fettsäuren wie die immunregulierende und entzündungshemmende Buttersäure) produzieren, bleibt deren Verlust im Organismus nicht lange folgenlos: die Darmwand wird durchlässig, erlauben ein Vordringen von Eiweißfragmente ins Blut und reizen so ein zuvor balanciertes Immunsystem zu Überreaktionen. Entzündungsbereitschaft und autoimmune Tendenzen nehmen zu und wichtige Stoffwechselvorgänge geraten immer mehr ins Stocken. Kurzum: Krankhafte Prozesse werden in Gang gesetzt und ufern – durch genetische Veranlagung verstärkt – zu klassischen Erkrankungen aus. Was als „harmlose Fehlregulation“ seinen Ausgang nahm, mündet schließlich in das Vollbild einer schwerwiegenden Infektion, Autoimmunerkrankung oder Stoffwechselstörung. Bei genauerer wissenschaftlicher Betrachtung lassen sich die Triebfedern vieler „Volkskrankheiten“ (z.B. starkes Übergewicht, Diabetes mellitus, Fettleber und Insulinresistenz, Allergien, Entzündungen, Osteoporose, Demenz) in Störungen des Mikrobioms und deren Folgen verorten.
Ein instabiles Mikrobiom hat ein labiles Immunsystem zur Folge
Ein gesundes Mikrobiom ist Grundlage eines balancierten, stabilen Immunsystems, das reaktionsschnell und schlagkräftig gegen eindringende Mikroorganismen und Tumorzellen agiert, aber genügend Toleranz aufbringt gegenüber niederschwelligen Reizen und körpereigenen Strukturen. Bakterielle Fehlbesiedelungen im Darm (Dysbiosen, bakterielle Überwucherung, sog. Mikrobiomstörungen) finden sich – sofern man nur genauer nach ihnen sucht – bei sehr vielen Patienten mit autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen (v.a. bei Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow), aber auch bei Schilddrüsenkrebs.
Doch damit nicht genug: Unser Mikrobiom beeinflusst auch die Verfügbarkeit wichtiger Mikronährstoffe und Vitamine wie Selen, Zink, Vitamin D, B-Vitaminen, Eisen und Kupfer, von denen einige bei Patienten mit autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen aufgrund des erhöhten Bedarfs typischerweise in den Mangelbereich absinken. Zumal deren Aufnahmefähigkeit über den Darm aufgrund der Mikrobiomstörung, der resultierenden Barrierestörung im Darm („leaky gut“), der häufig vergesellschafteten Darmprobleme wie Zöliakie und Weizen-Sensibilität oder aufgrund vorausgehender Operationen (bariatrische Operationen, Gallenblasen- und Dünndarmoperationen) ohnehin gestört ist.
Bei Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis ist es deshalb ratsam, eine Mikrobiom-Analyse aus dem Stuhl durchzuführen, auch wenn keine typischen Darmbeschwerden vorliegen. Der Nachweis einer relevanten Mikrobiomstörung schafft die Voraussetzung für eine Ernährungsumstellung, für Präbiotika (Ballaststoff-reiche, fermentierte Lebensmittel) und für die gezielte Zufuhr von Probiotika (Bakterienkulturen), um auf die gestörte immunologische Balance Einfluss zu nehmen und ein labiles oder „gekipptes“ Immunsystem wieder zu stabilisieren. Dies ist insbesondere in der Frühphase einer Hashimoto-Thyreoiditis sinnvoll, wenn zwar bereits eine ausgeprägte entzündliche und immunologische Fehlregulation vorliegt, die Schilddrüsenzerstörung aber noch nicht weiter fortgeschritten und somit reversibel ist (z.B. die Konstellation: hohe Antikörper gegen Schilddrüsenperoxidase (TPO), aber noch normales oder nur leicht erhöhtes TSH).
Das Potential von optimierter Ernährung, Probiotika und Mikronährstoffe ausschöpfen
Patienten mit autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen (Hashimoto-Thyreoiditis, Morbus Basedow), aber auch (noch) Gesunde mit familiär erhöhtem Risiko (z.B. Blutsverwandte mit autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen, Zöliakie, autoimmunen Leber- und Gallenwegserkrankungen, Autoimmungastritis, rheumatoider Arthritis, Sjögren-Syndrom, Lupus erythematodes, Sklerodermie u.a.) sollten ihre Ernährung kritisch prüfen, ungünstige Lebensmittel aussortieren und gezielt durch günstige Nahrungsmittel ersetzen. Grundausrichtung der Ernährung sollte eine natürliche, abwechslungsreiche Bio-Kost mit viel frischem, saisonalem Gemüse und Obst sein. Verzicht auf Allergie- und entzündungsfördernde Nahrungsmittel wie Kuhmilchprodukte und Gluten-haltige Brot- und Getreidesorten kann das überreizte und zur Autoaggression neigende Immunsystem entlasten. Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis profitierten in mehreren Studien von einer Umstellung der Ernährung von tierischem zu pflanzlichem Eiweiß. Reichlicher Konsum von Antioxidantien- und Vitalstoff-reichem Gemüse, grünen Blattsalaten, Beeren, Nüssen und Obst kann die Schilddrüse bei der Abwehr von Sauerstoffradikalen unterstützen. Fermentierte Nahrungsmittel wie Kefir, Joghurts, Soja, Miso, Kombu oder rohes fermentiertes Gemüse wie Fasssauerkraut fördern im Darm den Aufbau und Erhalt eines gesunden Mikrobioms und damit eines balancierten Immunsystems.
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Aminosäure Glutamin und die im Darm gebildeten kurzkettigen Fettsäuren (v.a. Buttersäure) mit ihrem günstigen Einfluss auf die Ernährung von Darmzellen und auf die regulatorischen T-Zellen des Immunsystems. Unnötige Attacken gegen das Mikrobiom in Form von Antibiotika, industriellen Produkten mit hohem Zucker-, Fruktose- und Fettgehalt, künstlichen Süßstoffen, Farb- und Zusatzstoffen sowie Emulgatoren sollten unterbleiben. Da Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow häufig ausgeprägte Defizite an Laktobazillen und Bifidobakterien aufweisen, ist eine gezielte Zufuhr dieser Bakterienkulturen mit höher dosierten Supplementen ratsam. Werden diese Maßnahmen mit einigen wichtigen Mikronährstoffen (Selen, Zink, Vitamin D3) und Omega-3-Fettsäuren (günstige Öle wie Leinöl, Rapsöl, hochwertiges Olivenöl, Fischöle) kombiniert, lässt sich im Körper und in der Schilddrüse ein entzündungshemmendes und antioxidativ geprägtes Milieu herstellen, das autoimmune Tendenzen entschärfen und zum Abklingen bringen kann.